Vgl. seine Kurzbiografie auf der Seite Zeitgenossen
»Die Erfahrungen dort [im Marcinowskischen Sanatorium] lassen mich zögern, mich nach einer ähnlichen Stellung nochmals irgendwo umzusehn«, schreibt Andreas-Salomé im Juli 1922 an Max Eitingon (Brief 12, in: LAS-ME-Br ). Als Begründung gibt sie an, dass dort die Existenz der Berliner Poliklinik »wie imgrunde überhaupt Freud's Werk selbst« verschwiegen werde, »um es bequemer auszubeuten«. Welche Erfahrungen hat Andreas-Salomé gemacht, um zu diesem Schluss zu kommen?
Johannes Marcinowski[1] ist als Arzt und Psychotherapeut eine vielschichtige und unabhängig agierende Gestalt in der Frühgeschichte der Psychoanalyse. Er hat sich schon früh im Selbststudium in die psychoanalytischen Schriften eingelesen und sie in seiner Praxis angewendet. Das brachte ihm anfangs eine gewisse Achtung unter den Psychoanalytikern ein – insbesondere von Sigmund Freud und C.G. Jung.[2]
Marcinowski betrieb seit 2007 ein Sanatorium »Haus Sielbeck« am Uklei (Nähe Eutin), das er jedoch im Februar 1919 – trotz aller Erfolge – verkauft hat. Mit seiner (zweiten) Familie zog er nach Heilbrunn[3] in der Nähe von Bad Tölz um. Dort begann er bald wieder Patienten zu behandeln, die sich stationär bei ihm aufhielten.
In dieser Zeit war Lou Andreas-Salomé bei ihm in Heilbrunn. Das erste Mal für kurze Zeit Anfang Juni 1920, das zweite Mal »für längere Zeit« zwischen Mai und August 1921.
Wie ist es dazu gekommen? Wann hat Andreas-Salomé Marcinowski kennengelernt? Eine exakte Angabe gibt es dafür nicht – nur einige Vermutungen.[4]
Mit der Aufgabe von Sanatorium Sielbeck und dem Umzug nach Heilbrunn jedoch begann Marcinowskis Abwendung von der Freudschen Psychoanalyse. Trotzdem wurde er 1921 als Leiter eines neu zu gründenden Freud-Kreises vorgeschlagen, was wohl auf die Anregung von Andreas-Salomé zurückgeht (Briefe v. 16.6.1920 und 20.7.1920, in: SF-LAS-Br 112 und 118).
Lou Andreas-Salomé wird von ihrem positiven Eindruck, den sie aus ihrem Aufenthalt in Heilbrunn im Juni 1920 gewonnen hatte, zu diesem Vorschlag geleitet worden sein. An Sigmund Freud hat sie am 16.6.1920 außergewöhnlich enthusiastisch geschrieben: »Ich möchte Ihnen sagen, welch einen starken Eindruck ich von Marcinowski's Gemeinschaft der Kranken unter sich und mit ihm empfangen habe!« und »Frau Gustel ist es ganz speziell, die das vielleicht erst so ermöglicht; sie war für mich ein Fund, ein überraschender und beglückender« (SF-LAS-Br 112 f.).[5]
Zu einer völlig anderen Beurteilung von Marcinowskis Ansatz kam dagegen Karl Abraham. Im Herbst 1920 versandte er einen Rundbrief, in dem er massiv warnte: »Trotzdem M. manche gute Beobachtung veröffentlicht hat, muß ich immer wieder zur Vorsicht mahnen. Seine ärztliche Tätigkeit diskreditiert die Psa. aufs Übelste. …«.
Lou Andreas-Salomé ließ sich trotzdem von den Marcinowskis anstellen, um im Sommer 1921 für mehrere Wochen (oder Monate?) »Psychoanalyse an Gemütskranken zu unternehmen«, wie sie ihrer Kusine schrieb – und dass es ihr »noch ein bischen spanisch vorkommt, in Stellung zu sein«[6].
Was aber war die Enttäuschung, die sie ein Jahr später konstatierte? Was hatte sich verändert?
In der Zwischenzeit hatte Marcinowskis Frau Auguste (Gustl) ihre Eltern und etliche ihrer Geschwister nach Heilbrunn geholt, und es kann sein, dass deren starke Frömmigkeit das gedeihliche Zusammenleben der Marcinowskis mit ihrer Patienten beeinflusste und die ursprüngliche Offenheit und gegenseitige therapeutische Befruchtung immer mehr eingeschränkte. In der Folgezeit entfernte sich Marcinowski immer weiter von der psychoanalytischen Gedankenwelt und beschäftigte sich mit parapsychologischen Experimenten und wandte sich dem Freimaurertum zu.
So konnte Andreas-Salomé am 24.9.2021 an Rainer Maria Rilke schreiben: »Im Sommer war ich in Stellung, in einem Sanatorium das mit Ps. A. arbeitet, aber es ergab eine üble Enttäuschung, hoffentlich ist's nicht überall so.« (RMR-LAS-Br 435) und auch Sigmund Freud vermeldete sie am 20.7.1921: »eine komplette Enttäuschung« (SF-LAS-Br 118).