Eine, die „Das Haus“ kannte, bevor sie das Haus kannte, war Anna Freud. Im Dezember 1921 hatten die beiden Frauen einander in Wien kennengelernt, und im April 1922 reiste Anna zu Lou nach Göttingen. Balduin und Markus Mandelstein kenne sie gut, schreibt sie und fragt in aufgeregter Reisevorfreude: „Wohnst Du in Göttingen so wie Anneliese im Berghaus?“ (Brief an LAS vom 26.3.1922) „[E]instmals wirklich ähnlich“ sei es „gelegen wie Annelieses, seither viel zugebaut ringsum“, antwortet Lou (Brief vom 29.3.1922).
Der Hinweg vom Göttinger Bahnhof auf den Hainberg, wo Loufried stand, taucht umgekehrt in einem literarischen Fragment von Anna Freud auf (Anna Freud: Gedichte – Prosa – Übersetzungen, Nr. 61).
Dies ist bezeichnend für die Begegnung von Lou Andreas-Salomé und Anna Freud: Sie stand zunächst unter literarischen Vorzeichen, hatte doch die Jüngere dahingehende Ambitionen, bevor sie sich für die Psychoanalyse entschied, und fand doch die Ältere, dass das Dichten „die schönste Umsetzung der väterlichen Ps.A. inʼs Weibliche“ wäre (LAS an SF, 28.8.1917).
Zum literarischen Austausch kam der psychoanalytische: Schon bei diesem ersten Besuch arbeiteten beide am Vortrag „Schlagephantasie und Tagtraum“, den Anna Freud im Mai 1922 vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung hielt und für den beide in die Vereinigung aufgenommen wurden. Seit der ersten Begegnung in Wien standen die beiden in kontinuierlichem brieflichem Austausch, leibhaftig begegneten sie einander insgesamt neun Mal – davon fünfmal in Göttingen. Ihr Gespräch kreiste als Seelengespräch um alles, was sie jeweils innerlich bewegte, um Literatur, Psychoanalyse in Theorie und Praxis, um Sigmund Freud, der die Freundschaft eingefädelt hatte, um Anna ein Stück weit von sich loszubringen (vgl. Spreitzer: Fast schreiben, in: Forschungsband). Lou Andreas-Salomé ist‘s beim Reisen nach Wien, als „käm [sie] heim zu Vater und Schwester“ (Brief vom 31.10.1928), Anna Freud nimmt die Rolle gerne an – „Ich bin so froh, daß ich Deine Schwester sein soll.“ (Brief vom 15.11.1928) – und erotisiert sie. Bis Dorothy Burlingham in ihr Leben tritt, bestrickt sie Lou häufig mit Konkretem und Verbalem, das Spiel mit Worten beantwortet Lou Andreas-Salomé immer wieder gerne. Die ödipale Fantasie bietet dafür den Rahmen. Für AF scheint es gerade die Distanznahme unter Wahrung von Zuneigung und Freundschaft gewesen zu sein, die ihr die eigene Weiterentwicklung ermöglichte.
(von Brigitte Spreitzer, die das literarische Werk von Anna Freud herausgegeben hat – und unseren Editionsband „Das Haus“)